Tyler Brûlé: Zürich, die perfekte Stadt (2024)

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Zürich: Europas entspannteste Großstadt

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Tyler Brûlé in der SchweizZürich, die perfekte Stadt?

Für einen Shopping-süchtigen Weltenbummler wie Tyler Brûlé ist eine Stadt schwer zu ertragen, in der sonntags die Geschäfte schließen. Dass er sich trotzdem in Zürich verliebt, liegt an ein paar Handwerkern und einem frisch renovierten Freibad.

Da der Sommer unverändert einen großen Bogen um Großbritannien macht, beschloss ich, diese Woche von unserem Büro in Zürich aus zu arbeiten. Nach der feuchten Hitze von Bangkok und Tokio waren die frische Luft und die kühle Brise am Sonntag in der Schweiz eine willkommene Abwechslung. Bei meinem Abflug von Tokio erreichte die Temperatur um 7 Uhr morgens schon 29 Grad Celsius. Als ich in Zürich landete, kam die Sonne nach einem kurzen Regenguss gerade wieder heraus und es herrschten angenehme 21 Grad.

Abgesehen vom perfekten Klima ist die Ankunft in Zürich an einem Sonntag jedoch auch immer mit einem leichten Schock verbunden. Die sture Weigerung der Schweiz, liberalere Ladenschlusszeiten einzuführen, sorgt dafür, dass die Sonntage sich anfühlen wie früher in Großteilen der Welt - langweilig, engstirnig und ein bisschen erdrückend. (Der Kompromiss, Bahnhofsgeschäften Ausnahmen zu erteilen und Milch an der Tankstelle anzubieten, ist weder fortschrittlich noch besonders komfortabel.)

Selbst das Jahrmarktsspektakel um einen Iron-Man-Wettkampf vor der Oper konnte diesen Eindruck nicht entkräften - eher desinteressiert schlenderten Einheimische und Touristen auf der Suche nach einer Beschäftigung die Straßen entlang. Einen Moment lang stellte ich deshalb sogar unsere Entscheidung infrage, Zürich kürzlich auf den ersten Platz unserer Liste mit den Städten, die die höchste Lebensqualität bieten, zu wählen. Konsumfreude auf diese Art auszubremsen ist schließlich nicht nur unpraktisch, sondern einfach auch völlig überholt. Oder etwa nicht?

Joggen viel besser als in Tokio

Als die Kirchenglocken der Altstadt zu schlagen anfingen, suchte ich nach den Vorteilen, die so ein regelmäßiger Entspannungstag für (fast) jeden bedeutet. Der Gedanke ließ mich einfach nicht los, während ich durch die Stadt bummelte. Selbst abends im Bett wog ich noch die Vorzüge von ein wenig Einkaufskomfort gegenüber der sonntäglichen Total-Stilllegung gegeneinander ab.

Am Montagmorgen verließ ich das Hotel ganz früh, um am See zu laufen. Das Wetter war erneut ein herrlicher Gegensatz zu der stickigen Hitze beim Joggen durch Tokios Hiroo-Viertel. Der Rückweg zum Hotel führte mich durch das Quartier Seefeld. Ich betrachtete die massive Architektur, die sauberen Straßen mit den zur Arbeit radelnden Pendlern. Die meisten Häuser entlang der Dufourstraße waren eine Mischung aus Wohn- und Bürogebäuden, im Erdgeschoss befanden sich Läden und Ausstellungsräume. Die Schilder wiesen auf eine überproportional hohe Zahl an Ärzten und kleinen Werbeagenturen hin, außerdem registrierte ich eine ebenso hohe Dichte an Frisörgeschäften.

Kurz vor 8 Uhr war in den meisten Gebäuden noch nicht viel los. Durch die halbhohen Fenster sah man jedoch zwei Männer, die mit der Arbeit an einem soliden Stück Holz beschäftigt waren, das aussah wie Walnuss. Sie standen in der Mitte einer ordentlichen, gut bestückten Werkstatt voller Bretter, Sägen, Schleifmaschinen, Schraubstöcken und vielen Werkzeugen.

Mir fiel auf, dass die Schreinerei sich über mehrere Häuser ausgedehnt hatte, dass viele Fahrzeuge mit Firmenaufdruck an der Seite parkten und Männer in sauberer Arbeitskleidung herumliefen, um den Tag vorzubereiten. Für sich betrachtet war dieser kleine Betrieb nicht besonders einzigartig. Auffällig und auch leicht überraschend war nur, dass er sich in einem der teureren Viertel dieser Stadt befand und sich den Platz mit Schönheitschirurgen, Rechtsanwälten und Filmproduktionsstudios teilte.

Auf meinem Weg zum Büro bemerkte ich an diesem Morgen weitere Werkstätten und Ateliers, die in der Stadt verstreut waren - alle im gleichen Umfeld mit Betrieben, die man eher in einem Stadtzentrum vermutet.

Wohnraum wichtiger als Gewerbe?

Ein paar Stunden später hatte ich als Ko-Moderator einer Radiosendung das Glück, Zürichs oberste Stadtplanerin kennen zu lernen. Mein Kollege stellte ihr Fragen zu Stadtentwicklungsstrategien, zum Beispiel, ob die Gefahr bestünde, dass die kleinen Ateliers und Studios durch die steigenden Preise und zunehmende Wohnraumverdichtung aus dem Zentrum herausgedrängt würden.

Ich hatte halb erwartet, dass sie sagen würde, Wohnraum sei wichtiger und für das Gewerbe habe Gott schließlich Vororte geschaffen. Stattdessen stellte sie jedoch die Bedeutung dieser Gewerbe-Mischung und den damit verbundenen Jobs für ein rundes Stadtbild heraus. "Damit das gelingt, brauchen wir interessante Nischen und Geschäfte in ganz Zürich", sagte sie.

Am nächsten Tag folgte ich derselben Routine und hielt besonders aufmerksam nach besagten Nischen Ausschau. Tatsächlich entdeckte ich jede Menge Betriebe von der Metallverarbeitung über die Glaserei bis zum Tischler. Daneben fiel mir auch noch ein neuer Park ins Auge, der sowohl für Kinder als auch deren Eltern ausgerichtet war, mit blitzsauberen öffentlichen Toiletten, die keine Gebühren verlangten, sowie kleinen Kiosken, die an private Betreiber vermietet worden waren und Kaffee und Erfrischungen anboten.

Um die Mittagszeit besuchte ich unter wolkenlosem Himmel schließlich eine von Zürichs neuesten Beispielen für inspirierte Städteplanung: das frisch renovierte Flussbad Unterer Letten. Entlang des schnell fließenden Kanals hatten sich Hunderte von Leuten auf perfekt angeschrägten hölzernen Liegerosten ausgestreckt.

In der Nähe servierte ein Kiosk mexikanische Gerichte und daneben wurden Bücher verschenkt. In den Umkleideräumen standen ansprechende Schließfächer aus Holz. Und das Beste? Alles ist für Einwohner und Gäste völlig umsonst. Fast noch besser: Niemand muss hier sein Rad abschließen.

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Author: Rev. Leonie Wyman

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